Evelyne Koitzsch
...
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Andrea Nahles
Wilhelmstraße 49
10117 Berlin
Dresden, 21.08.2015
Sehr geehrte Frau Nahles,
wie Sie bereits wissen, verhungert vor Ihrer Haustür in aller Öffentlichkeit
ein Mensch, Ralph Boes, dessen Brandbrief,
in dem er bereits 2012 auf die Missstände bei Hartz IV und die
Verfassungswidrigkeit im SGB II aufmerksam machte, Sie und Ihre Kollegen seit
Jahren erfolgreich ignorieren. Selbst jetzt, da er durch sein Jobcenter
Berlin-Mitte und Ihre Gesetzgebung in Lebensgefahr gebracht wird, wollen Sie
sich aus der Verantwortung stehlen, indem Sie durch Ihre Pressesprecherin
lapidar auf die (ungültigen) Lebensmittelgutscheine verweisen. Selbst wenn sie
gültig wären, durch solche Scheine wird die Entwürdigung noch weiter verstärkt
und die Menschenwürde weitaus tiefgründiger als durch bloße Sanktion verletzt!
(Im Asylrecht wurden die Gutscheine aus diesem Grund schon abgeschafft.)
Seit Oktober 2013 wird Ralph Boes durchgehend zu 100% sanktioniert, weil er
sich mit aller Kraft für die Abschaffung von Hartz IV und der Sanktionen im SGB
II-System, die Wiedereinführung der Menschenwürde und ein bedingungsloses
Grundeinkommen einsetzt! Er wäre – trotz permanenter Öffentlichkeit – längst
verhungert oder erfroren! Nur durch unsere Solidarität war es möglich, dass er
bisher überleben und seine Arbeit für uns alle, auch für jene die noch
arbeiten(!), fortsetzen konnte.
Nachdem aber jetzt die Frage zur Verfassungsmäßigkeit von Hartz-IV im
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht ist, sieht er keine
Berechtigung mehr, seine Anhänger um Darlehen für sein Überleben zu bitten und
verzichtet daher seit 1. Juli auf Abfederung der Sanktionen.
Dies bedeutet erneut kein Geld für Nahrungsmittel und den täglichen Bedarf. Was
Tausende im Verborgenen trifft, macht er zum öffentlichen Ereignis.
Und das mit Recht!
Denn weder Sie noch die Jobcenter interessierten sich bisher für die Schicksale
von Sanktionieren, wie viele Menschen durch die Hartz IV-Schikanen bereits in
den Tod getrieben wurden oder durch Sanktionen verhungert sind, s. http://dieopferderagenda2010.wordpress.com/kurzuebersicht.
Das ist Genozid an einem Teil der Bevölkerung durch unterlassene Hilfeleistung
und hat mit einem Rechts- oder Sozialstaat nichts mehr zu tun: das ist
Faschismus!
Einen faschistischen Staat erkennt man u.a. daran, dass man eine Gruppe
Menschen selektiert, ihnen ihre Grundrechte raubt, sie öffentlich dämonisiert,
terrorisiert und für sie eigene Gesetze schafft, wie damals unter Hitler für
Menschen mit Behinderung, Arbeitslose, Juden, Sinti, Roma u.a. Minderheiten.
Und genau das passiert heute bei Hartz IV!
Die Touristen, die Herrn Boes am Tisch vor dem Brandenburger
Tor besuchen, erkennen das schon! Sie sind sehr interessiert was hier in
Deutschland, insbesondere bei Hartz IV, vorgeht! In Österreich ist Herr Boes
nach einem Vortrag über Hartz IV sogar angezeigt worden, weil er einen
"faschistischen Text" vorgelesen und kommentiert hatte: die
Rechtsfolgenbelehrung auf der Rückseite der Eingliederungsvereinbarung...!
Ja, die Österreicher merken das noch - die Deutschen nicht! Auch von einem
Sozialstaatsprinzip scheinen Sie in der Regierung noch nie gehört zu haben,
denn Sie haben ja diese "Hartz"-Gesetze geschaffen! Die verbalen
Entgleisungen Ihrer Politiker-Kollegen, s. linke Spalte in o.g. Link (etwas
nach unten scrollen) müssten Ihnen als Sozialministerin doch bitter aufstoßen?
Oder finden Sie es normal, wenn einer, der nicht arbeitet nicht essen soll
(Müntefering) und gezwungen wird, irgendwas (mitunter Idiotisches) zu tun, nur
damit die Statistiken politisch korrekt sind, s. Film vom Wallraff-Team?!
Das ist Zwangsarbeit. Und Zwangsarbeit hat in einer Demokratie und einem
Sozialstaat nichts zu suchen!
Die Frage nun, die Herr Boes mit seiner Aktion vor Ihrer Haustür stellt, ist:
Darf das Lebensrecht eines Menschen davon abhängen,
ob er sich systemkonform verhält?
Wie weit sind wir bereit zu gehen, wenn Menschen angeblich faul sind?
In welcher Gesellschaft wollen wir leben, wenn wir verstehen, dass die
Sanktionspraxis der Jobcenter allen schadet, indem sie die Gesellschaft in
würdige und unwürdige Mitglieder spaltet, die Existenzangst zum Druckmittel für
Arbeit macht und den Niedriglohnsektor und die Leiharbeit ausweitet?
Ralph Boes geht es nicht um sein persönliches Wohl, sondern um eine
Grundsatzfrage in unserer Gesellschaft: Gilt in Deutschland noch das, was im
Grundgesetz verankert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“?
Inwiefern schützt der Staat den Einzelnen, indem er ihm seine Lebensgrundlage
entzieht?
Diese Antwort steht nun dringend aus.
Heute ist sein 52. Hungertag. Wie lange wird er noch durchhalten?
Jetzt sind Sie am Zug! Sprechen Sie mit ihm! Lassen Sie sich erklären, was hier
vorgeht!
Weitere Infos, u.a. auch über die Rechtslage, auf meiner Internetseite, s.o.
Mit freundlichen Grüßen
Evelyne Koitzsch
P.S.: Aufgrund der Brisanz des Themas behalte ich mir vor, diesen E-Mail-Brief
öffentlich zu machen, um andere, die gegen den Tod von Ralph Boes etwas tun
wollen, eine Anregung für mögliche weitere Briefe an Institutionen, Behörden
oder z.B. Abgeordnete zu geben. Danke für Ihr Verständnis im Voraus!
Aufgrund der Dringlichkeit ist mir nur die E-Mail-Form möglich.
Antwort:
Sehr geehrte Frau Koitzsch,
vielen Dank für Ihre Mail.
Frau Bundesministerin Andrea Nahles erhält täglich mehrere hundert Briefe und E-Mails von Mitbürgern, die sich mit ihren Anregungen und Anliegen an sie persönlich wenden. Sie hat wegen der zwingenden Verpflichtungen aus ihrem Amt nicht die Zeit, jeden einzelnen Brief selbst zu lesen und persönlich zu beantworten.
Sicherlich haben Sie Verständnis dafür. Bundesministerin Andrea Nahles wird regelmäßig über Meinungen und Anregungen unterrichtet.
Wir bitten weiterhin um Verständnis, dass wir uns zur Angelegenheit des Herrn Boes selbst nicht äußern können. Wir können Ihnen aber versichern, dass die Jobcenter in Fällen, in den es zu Sanktionen, d.h. zur Minderung des Arbeitslosengeldes II kommt, den Betroffenen alle nach den gesetzlichen Regelungen bei Sanktionen vorgesehenen Leistungen anbieten und zur Verfügung stellen.
Dieses Schreiben ist im Auftrag und mit Genehmigung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durch das Kommunikationscenter erstellt worden und dient Ihrer Information.
Mit freundlichem Gruß
Kommunikationscenter
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
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